[Darstellung Größer 1 wählen.] [zum Inhalt (Taste Alt+8).] [zur Auswahl (Taste Alt+7).] (Taste Alt+6).

Andreas Schluricke.

"Warschau und Berlin können Europa verändern" :

Europa

Außenminister Steinmeier in der polnischen Zeitung "Dziennik" am 5. April 2008

05.04.2008

Nach unserem ersten Treffen in Berlin schenkte mir mein polnischer Amtskollege Radek Sikorski sein Buch "Das polnische Haus". Er beschreibt darin die Geschichte einer polnischen Familie, seiner Familie, im zwanzigsten Jahrhundert. Und er erzählt, wie er nach dem Ende des Kommunismus ein altes polnisches Haus in der Nähe seiner Heimatstadt Bydgoszcz wieder aufbaut und mit neuem Leben erfüllt.

Das Buch zeigt, dass nach diesem Jahrhundert mit seinen materiellen und menschlichen Zerstörungen Neuanfang und Wiederaufbau möglich sind. Und es zeigt, wie das gehen kann: Nicht indem man Vergangenes vergisst und verdrängt, sondern indem man sich geduldig auf Spurensuche begibt und die Vergangenheit – in all ihrer Komplexität - Schicht um Schicht wieder freilegt.

Polen und Deutsche haben am Ende des 20. Jahrhunderts den düsteren Kapiteln ihrer Geschichte ein neues Kapitel hinzugefügt. Sie haben gemeinsam Freiheitsgeschichte geschrieben. Und haben damit wieder angeknüpft an eine Zeit, in der deutsche und polnische Patrioten gemeinsam „für eure und unsere Freiheit“ eingetreten sind.

Wir Deutsche werden nie vergessen, welche Rolle die polnische Freiheitsbewegung für die Überwindung der Teilung Europas und unseres Landes gespielt hat. Dies ist Teil unserer kollektiven Erinnerung – ebenso wie das mahnende Gedenken an das unaussprechliche Leid, das wir über Polen und viele andere Völker gebracht haben.

Jean-Claude Juncker hat einmal gesagt, dass man über die Soldatenfriedhöfe Europas gehen muss, um zu verstehen, warum ein geeintes Europa notwendig ist. Eines Tages wird man vielleicht sagen: Man muss auch die Danziger Werft und das Brandenburger Tor gesehen haben, um zu verstehen, woher die Kraft zur Fortsetzung dieses großen Friedensprojektes kommt. Die Geschichte des Leids und die Geschichte der Freiheit verbinden Deutschland und Polen wie kaum zwei andere Völker. Darin liegt eine Last, aber auch eine große Chance.

Vor wenigen Tagen hat das polnische Parlament mit großer Mehrheit für die Ratifizierung des Europäischen Reformvertrages gestimmt. Damit gab es ein Signal, dass Polen bei der weiteren Gestaltung unseres europäischen Hauses eine aktive Rolle spielen will. Das ist für ganz Europa eine gute Nachricht. Denn Europa braucht ein starkes, selbstbewusstes Polen. Ein Polen, das mit seinen Partnern die europäische Zukunft baut.

Ich glaube, dass die Zeit für eine neue deutsch-polnische Agenda gekommen ist. Eine Agenda, die anspruchsvoll und ehrgeizig genug ist, um auch schwierigen Fragen nicht auszuweichen. Die aus unterschiedlichen geschichtlicher Erfahrungen neue Lösungen entstehen lässt. Drei Felder scheinen mir dabei besonders wichtig zu sein:

Erstens: Die Gestaltung des Verhältnisses zu unseren östlichen Nachbarn. Der Beitritt Polens hat Weißrussland, die Ukraine und Russland noch näher an die Europäische Union herangebracht. Nicht nur durch die neue gemeinsame Grenze, sondern auch durch die über Jahrhunderten gewachsenen, sehr engen Beziehungen, die Polen – und in mancher Hinsicht Deutschland – mit diesen Ländern verbinden.

Dabei gibt es durchaus unterschiedliche Perspektiven. Viele Polen waren Opfer von Stalin-Zeit und Kommunismus. Das prägt den Blick nach Osten bis heute. Deutsche haben im Zweiten Weltkrieg nicht nur unseren Nachbarn, sondern auch den Völkern der Sowjetunion unermessliches Leid zugefügt. 20 Millionen Menschen haben ihr Leben verloren. Auch dafür stehen wir in historischer Verantwortung.

Aber bei allen Unterschieden verbindet uns ein gemeinsames Ziel: Wir wollen unsere Nachbarn im Osten an unser europäisch-atlantisches Netz von Wohlstand und Sicherheit heranführen. Und wir wollen eine gesamteuropäische Friedensordnung schaffen, die Russland nicht ausschließt.

Die Aufgabe ist klar: Es geht um die längst überfällige Demokratisierung Weißrusslands genauso wie um die weitere Heranführung der Ukraine an die euroatlantischen Strukturen. Und auch mit Russland müssen wir Wege finden, die bestehenden Spannungen abzubauen. Mit dem neuen Präsidenten, der sich sehr deutlich zur Rechtstaatlichkeit und Modernisierung seines Landes bekannt hat, ergeben sich auch neue Chancen. Ich meine: Wir sollten sie nutzen! Und Dimitrij Medwedjew beim Wort nehmen!

Zweitens: Die gemeinsame Verantwortung für Energiesicherheit und Klimaschutz. Diese zwei Bereiche sind zentrale Zukunftsthemen, die Europa nur gemeinsam lösen kann. In den Europäischen Reformvertrag haben wir deshalb den Grundsatz der europäischen Solidarität in Energiefragen neu aufgenommen.

Polen nutzt fast ausschließlich Kohle als Quelle der Stromversorgung. Und auch Deutschland wird weiter neue Kohle-Kraftwerke bauen. Daher kommt der Entwicklung und Anwendung sauberer Kohletechnologien eine herausragende Bedeutung zu. Hier können wir unsere Kräfte bündeln, um bei der Verbesserung der Wirkungsgrade, der Einführung der Kraft-Wärme-Kopplung oder der Entwicklung der Kohlendioxidabscheidung und -lagerung voranzukommen.

Deutschland hat in den letzten Jahren beim Ausbau alternativer Energien und dem Einsatz umweltfreundlicher Technologien große Fortschritte gemacht. Wir können gemeinsam auf diese Expertise zurückgreifen. Das wäre auch ein gemeinsamer Impuls für die Ende des Jahres in Posen stattfindende Weltklimakonferenz.

Und auch in der politisch so heftig umstrittenen Frage der Ostsee-Pipeline sehe ich Raum für gemeinsame Lösungen. Dieses Projekt ist Teil der Transeuropäischen Netze, weil Europa auf jeden Fall zusätzliche Leitungskapazitäten braucht. Im Geiste europäischer Solidarität könnten Deutschland und Polen an ihrer Grenze aber auch die technischen Möglichkeiten schaffen, um Gas und Elektrizität im Falle von Lieferstörungen auch von Deutschland nach Polen fließen zu lassen. Beide Länder setzen bei Gas und Öl auf eine Diversifizierungsstrategie. Warum können wir nicht den Flüssiggas-Sektor gemeinsam weiter entwickeln? Oder im Rahmen der EU-Zentralasienstrategie daran arbeiten, dass neue Lieferwege nach Europa erschlossen werden?

Drittens: Die Suche nach einem neuen Gleichgewicht zwischen wirtschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit und sozialer Gerechtigkeit.

Polen hat nach 1989 schnell und erfolgreich den Weg der Marktwirtschaft eingeschlagen. So schnell und so erfolgreich, dass den neuen Eliten in den 90er Jahren Länder wie Frankreich oder Deutschland sklerotisch und zukunftslos erschienen. Umgekehrt hatten viele Westeuropäer den Eindruck, dass sozialer Ausgleich und Sicherheit den Osteuropäern gleichgültig seien. Neue Stereotypen machten sich breit und führen bis heute zwischen "altem" und "neuem" Europa zu Sprach- und Verständnislosigkeit. Erst in jüngster Zeit wächst wieder die Bereitschaft, aufeinander zuzugehen.

Polen hat mit der "Solidarnosc", der Solidarität, einem alten Begriff der europäischen Arbeiterbewegung zu neuem Glanz verholfen. Und diese Solidarität gibt auch für die Zukunft noch einen guten Leitstern ab. Solidarität mit den Schwächeren, soziale Durchlässigkeit, Bildungschancen für alle gehören zu den Garanten langfristigen wirtschaftlichen Erfolges. Sicher muss jede Gesellschaft ihr eigenes Gleichgewicht jeweils neu bestimmen. Aber es gibt bei aller Verschiedenheit so etwas wie einen "europäischen Weg", dessen langfristiger Erfolg weder Deutschen noch Polen gleichgültig sein kann.

Drei Zukunftsbereiche habe ich genannt, wo die deutsch-polnische Kooperation - gerade wegen der Unterschiedlichkeit mancher Ausgangsposition - fruchtbar sein kann. Aber ich gebe mich keinen Illusionen hin. Wir werden viel Kraft und die Geduld brauchen, um die Schwierigkeiten zu überwinden.

Und damit komme ich wieder zurück zu Radek Sikorskis Haus. Geduld und Kraft wachsen dort, wo wir bereit sind zu einem unverstellten Blick zurück. Bereit zur Suche nach der historischen Wahrheit in all ihrer Komplexität. Um dann mit alten und neuen Steinen das Haus der Zukunft zu bauen.

Deutsche und französische Historiker haben nach jahrelanger Arbeit den ersten Band eines gemeinsamen deutsch-französischen Geschichtsbuchs vorgelegt. Inspiriert von diesem Beispiel habe ich, gemeinsam mit Radek Sikorski, die Idee eines deutsch-polnischen Geschichtsbuches lanciert. Eines Geschichtsbuches, in dem deutsche Schuld und deutsche Verbrechen nicht verschwiegen oder relativiert werden. In dem aber auch das Leid der deutschen Vertriebenen beschrieben wird. In dem erzählt wird von dem Schicksal der Menschen, die in Breslau und Danzig eine neue Heimat gefunden haben. Ein Buch, das berichtet von dem Versöhnungswort der Bischöfe und dem polnischen Papst. In dem die Solidarnosc ebenso ihren Platz findet wie das Hambacher Fest.

Und ich würde gern diesen Vorschlag um ein weiteres Element erweitern. Im Jahr 2010 liegt der Kniefall von Willy Brandt vor dem Warschauer Denkmal für den Aufstand im jüdischen Ghetto 40 Jahre zurück. Warum bitten wir nicht deutsche und polnische Historiker, aus diesem Anlass eine große Ausstellung zu konzipieren, die in Warschau und Berlin an prominenter Stelle gezeigt werden kann? Eine Ausstellung, die das ganze Spektrum unserer gemeinsamen Geschichte zeigt. Die zeigt, wie aus Angst und Ablehnung durch Zusammenarbeit und gemeinsame Interessen Vertrauen wächst und Partnerschaft entsteht. Eine solche Ausstellung wäre nicht nur ein Zeichen der Versöhnung, sondern ein wichtiger Baustein für unser gemeinsames europäisches Haus.

 

- Zum Seitenanfang.