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Andreas Schluricke.

Matthias Platzeck: Versöhnung ernst nehmen :

Wahlen

Im morgigen SPIEGEL macht sich Matthias Platzeck in einem Essay unter dem Titel „Versöhnung ernst nehmen – warum unser Land endlich inneren Frieden braucht“ dafür stark, den ernsthaften Prozess der Versöhnung in Ostdeutschland voranzutreiben: „Die Macht der Vergangenheit ist gut erklärlich. Aber sie tut Ostdeutschland nicht gut, und sie tut der politischen Kultur in unserer seit 1990 vereinigten Republik nicht gut“, so Matthias Platzeck.

Hier der gesamte Test des Essays:

Versöhnung ernst nehmen
Warum unser Land endlich inneren Frieden braucht
Von Matthias Platzeck
(erschienen im Spiegel vom 2.11.2009)

Zu den besonders ängstlichen Menschen habe ich nie gehört. Aber
im Frühjahr 1989 wurde mir doch ziemlich mulmig. Gemeinsam mit
Freunden hatte ich im Jahr zuvor in Potsdam eine Bürgerinitiative
gegründet. Dem Verfall der historischen Bausubstanz und der Umwelt
in unserer Heimatstadt wollten wir nicht länger tatenlos zusehen.
Und im Mai hatte ich, wie viele andere Bürger der DDR, gegen
die groteske Wahlfälschung protestiert, mit der die SED ihr Ergebnis
bei den Kommunalwahlen noch einmal auf fast 100 Prozent hieven
wollte.
Nun bekam ich Besuch. An meiner Arbeitsstelle tauchten zwei Offiziere
des Ministeriums für Staatssicherheit auf. Mit geübtem Geheimdienstblick
starrte mich einer der beiden lange wortlos an. Die
Sache sei nun die, eröffnete er mir schließlich, dass die Geduld seines
Ministeriums mit mir ein Ende habe. Würde ich weitermachen
wie bisher, seien meine drei Töchter demnächst in einem staatlichen
Kinderheim besser aufgehoben. Sie bezogen sich dabei mit
ihren Drohungen auch auf meine geschiedene Frau, die aktiv in der
kirchlichen Opposition arbeitete. Man habe da allerdings einen
„Vorschlag“, über den ich doch bitte einmal gründlich nachdenken
möge. In ein paar Tagen würden sie wiederkommen, dann werde
man weitersehen. Guten Tag!
Ich ging auf keinerlei „Vorschläge“ ein, paktierte nicht mit der Stasi
– und meine Kinder landeten trotzdem nicht im Heim. Doch sicher
konnte ich mir nicht sein. Die Drohung stand im Raum. Das flößte Angst ein. Dass sie nicht unberechtigt war, bestätigte mir später die
Aktenlage. Man hatte mir bereits eine Internierungsnummer zugewiesen.
Angst - genau darum ging es den Herrschenden in der
DDR. Ihre Macht erwuchs auch aus der Ohnmacht ihrer Untertanen.
Also kam es darauf an, diesen die eigene Ohnmacht ständig vor Augen
zu führen. Als die Untertanen schließlich im Herbst 1989 – auch
zu ihrer eigenen Verblüffung - beschlossen, sich nicht länger einschüchtern
zu lassen, sondern selbstbewusste Bürgern sein zu wollen,
war es um die Allmacht der SED geschehen.
Inzwischen liegt der Besuch der beiden Stasi-Offiziere zwei Jahrzehnte
zurück. Meine Töchter sind erwachsen und stehen im Berufsleben.
Doch wenn ich heute an die Szene zurückdenke, fasst mich
noch immer der Schrecken an, den ich damals verspürte. Und dann
fühlen sich 20 Jahre auf einmal ganz kurz an. Unzählige ehemalige
Bürgerinnen und Bürger der DDR kennen das Gefühl. Für manche
hatte es traumatische Folgen. Viele können sich an irgendein
Schlüsselerlebnis ihrer einstigen Ohnmacht heute noch so genau
erinnern, als wäre es gerade erst geschehen. Und weil das so ist,
sind 20 Jahre ein sehr relativer Zeitraum. Vieles ist vergessen,
manches aber eben nicht. Deshalb tun sich nicht wenige bei uns in
Ostdeutschland so schwer damit, das Gewesene ein für allemal gewesen
sein zu lassen.
„Die Vergangenheit ist nicht tot, sie ist nicht einmal vergangen“,
hat Christa Wolf einmal geschrieben. Dieses Gefühl kenne ich sehr
gut, und nicht zuletzt in meiner eigenen Partei ist es weit verbreitet.
Wen würde es wundern? Der erste Daseinsgrund der ostdeutschen
Sozialdemokratie war es ja gerade, das illegitime Machtmonopol
der SED zu brechen. An die Stelle der Herrschaft der allmächtigen
Partei mit ihrem absurden Wahrheitsmonopol sollten endlich
Freiheit, Rechtsstaat und soziale Marktwirtschaft treten. Angepeilt wurde der pluralistische Wettbewerb um die bessere politische Idee.
Die ostdeutsche Sozialdemokratie, gegründet am 40. Jahrestag
der DDR, war der komplette Gegenentwurf zur SED. Dieses Urmotiv
prägt die SPD im Osten bis heute.
Dennoch habe ich meinen Parteifreunden nach der Brandenburger
Landtagswahl vom 27. September vorgeschlagen, diesmal eine Koalition
mit genau derjenigen politischen Gruppierung einzugehen,
die sich mittlerweile „Die Linke“ nennt, aber aus der SED hervorgegangen
ist. „Ausgerechnet du, Platzeck“, höre ich seither immer
wieder, „ausgerechnet Du als ehemaliger Bürgerbewegter“. Die
Kritik fällt großkalibrig bis grobschlächtig aus. Ich hätte „Verrat“ an
den Werten der Revolution von 1989 geübt, wirft mir die Vorsitzende
der Brandenburger CDU vor. Eine „Schande“ sei solch eine Koalition,
erklärt Wolfgang Schäuble. Für die Koalition mit den Erben
der SED hätten sich meine Partei und ich aus bloßem Machtopportunismus
(oder Schlimmerem) entschieden, hält man uns entgegen.
Angesichts ihrer Herkunftsgeschichte ist es bemerkenswert, dass
sich gerade die Brandenburger Sozialdemokratie von solchen Einwänden
unbeeindruckt zeigt. Ich räume ein: Für die Entscheidung
der SPD in Brandenburg, eine Koalition mit der Linkspartei einzugehen,
sprechen auch einige ganz lebenspraktische Gründe. Da ist
etwa die tiefe Zerstrittenheit unseres bisherigen Koalitionspartners
CDU, nachdem ihr bisheriger Zuchtmeister Schönbohm die Bühne
verlassen hat. Wegen ihrer knappen parlamentarischen Mehrheit
hätte eine mögliche SPD/CDU-Koalition mit hoher Wahrscheinlichkeit
kein verlässliches Regieren über die volle Wahlperiode zugelassen.
Das aber erwarten die Bürger völlig zu recht von der Politik.
Zudem konnten wir in unseren Verhandlungen mit der Brandenburger
Linkspartei deutlich größere inhaltliche Gemeinsamkeiten fest stellen, als sie mit der CDU zu erzielen gewesen wären – wozu insbesondere
Fragen moderner, also vorsorgender Gesellschaftspolitik
gehören.
Wo sich inhaltliche Übereinstimmung und tragbare Kompromisse
erzielen lassen, da müssten eigentlich auch Koalitionen anderer
demokratischer Parteien – nicht nur der SPD – mit der Linkspartei
möglich sein. Doch im Verhältnis zur Nachfolgeorganisation der SED
geht es auch 20 Jahre nach dem Ende der DDR nicht nur um Kompromisse
in der Sache. Immer geht es auch um die Last der Geschichte,
um staatliche Willkür, Verletzungen, gebrochene Biographien
oder – wie bei mir - um Stasi-Männer, die plötzlich drohend
im Zimmer standen. Es geht, kurz gesagt, um die Macht der Vergangenheit
über Gegenwart und Zukunft.
Diese Macht der Vergangenheit ist gut erklärlich. Aber sie tut Ostdeutschland
nicht gut, und sie tut der politischen Kultur in unserer
seit 1990 vereinigten Republik nicht gut. Dabei geht nicht um irgendwelche
„Schlussstriche“. In den Brandenburger Koalitionsvertrag
haben SPD und Linkspartei gemeinsam hineingeschrieben: „Eine
Verklärung der SED-Diktatur wird es mit dieser Koalition nicht
geben. Der offene und kritische Umgang mit früheren Fehlern ist
ebenso notwendig wie die Übernahme von Verantwortung für verursachtes
Unrecht. Wir werden die Lehren der Geschichte umfassend
beherzigen und weitergeben. Unser Respekt und unsere Zuwendung
gelten den Opfern der Diktatur, das Andenken an erlittene Repressalien
werden wir wach halten.“
Zwei Jahrzehnte nach dem revolutionären Umbruch in der DDR
müssen wir in Deutschland endlich anfangen, es mit dem überfälligen
Prozess der Versöhnung wirklich ernst zu meinen. Eine Frage
sollte uns dabei auf die Sprünge helfen: Wie war es eigentlich möglich, dass aus der Bundesrepublik nach der Katastrophe des Nationalsozialismus
eine liberale und zivile Gesellschaft werden konnte?
Anders gefragt: Welche Entwicklung hätte Deutschlands Westen
wohl genommen, wären die Gegner und Feinde von einst nach 1945
derartig unversöhnlich miteinander verfahren, wie wir ehemaligen
Kontrahenten des Kalten Krieges und der DDR es bis heute vielfach
tun?
Alle postdiktatorischen Gesellschaften stehen vor demselben
Grundproblem: Wie weit sollen belastete Gruppen von Menschen in
die neue demokratische Gesellschaft integriert werden? Mir ist bewusst:
Wer die Aufarbeitung von Diktaturen miteinander vergleicht,
der bewegt sich auf dünnem Eis. Schnell ist die Unterstellung bei
der Hand, hier wolle einer gleichsetzen, was unterschiedlich war.
Dem ist mit dem Historiker Heinrich August Winkler knapp entgegenzuhalten:
„Vergleichen heißt nicht gleichsetzen, sondern nach
Unterschieden und Gemeinsamkeiten fragen.“ Fragt man in diesem
Sinne, dann begreift man: Die gelungene Demokratisierung, die
Westdeutschland nach 1945 sehr zügig zu einem anerkannten Staat
unter Gleichen machte, konnte überhaupt nur unter der Voraussetzung
gelingen, dass ehemalige Mitläufer und wo verantwortbar
selbst Täter des Nationalsozialismus nicht dauerhaft ausgegrenzt
blieben, sondern einbezogen wurden.
So unverdächtigen Akteuren wie Kurt Schumacher, der im Nationalsozialismus
fast ein Jahrzehnt im Konzentrationslager gelitten hatte,
stand dies schon in der Frühphase der Bundesrepublik klar vor
Augen. Bereits im Oktober 1951 – nur sechs Jahre nach dem Krieg! –
empfing der SPD-Vorsitzende zwei frühere hohe Offiziere der Waffen-
SS zu einem Gespräch, die jetzt als Funktionäre der „Hilfsgemeinschaft
auf Gegenseitigkeit“ die Interessen ehemaliger Soldaten
der Waffen-SS vertraten. Als daraufhin eine internationale Organisation jüdischer Sozialisten Protest erhob, erwiderte Schumacher,
viele der 900.000 Überlebenden der Waffen-SS seien gegen ihren
Willen in diese Organisation eingezogen worden.
Wörtlich sagte Schumacher: „Die Mehrzahl dieser 900.000 Menschen
ist in eine ausgesprochene Pariarolle geraten … Uns scheint es eine
menschliche und staatsbürgerliche Notwendigkeit zu sein, diesen
Ring zu sprengen und der großen Masse der früheren Angehörigen
der Waffen-SS den Weg zu Lebensaussicht und Staatsbürgertum
freizumachen … Ein kompakter Komplex von rund 900.000 Menschen
ohne soziale und menschliche Aussicht ist zusammen mit ihren Angehörigen
schon zahlenmäßig keine gute Sache für eine junge, von
großen Spannungen der Klassen und Ideen zerpflügte Demokratie.
Ihnen, die keine kriminelle Schuld auf sich geladen haben, sollte
man die Möglichkeit geben, sich erfolgreich mit der für sie neuen
Welt auseinanderzusetzen.“
Was bereits Kurt Schumacher verstand, wird in der heutigen Literatur
zur Geschichte der Bundesrepublik durchweg als paradoxe Bedingung
für den Erfolg der jungen Bundesrepublik herausgearbeitet:
„Dies war das politische ‚Kunststück‘ der bundesdeutschen Vergangenheitspolitik,
„schreibt der Historiker Edgar Wolfrum: „die gesellschaftliche
und politische Verfassung der Bundesrepublik als Negation
des Nationalsozialismus zu etablieren und gleichzeitig die
ehemaligen NS-Täter, Belasteten und Mitläufer zu integrieren“.
Der seit 1990 vereinigten Bundesrepublik ist zwar eine bemerkenswerte,
richtige und bessere Aufarbeitungsleistung gelungen - eine
vergleichbare Integrationsleistung bis heute jedoch nicht. Quer
durch die ostdeutsche Gesellschaft zieht sich auch nach 20 Jahren
noch immer – und sogar wieder zunehmend - ein ungesunder Riss.
Der Mehrheit der „Angekommenen“ steht die beträchtliche Minderheit derjenigen gegenüber, die sich zurückgezogen haben, weil sie
sich zurückgesetzt fühlen. „Bei einem Teil der Bevölkerung nistet
die Ohnmacht noch immer in den Seelen“, schreibt Joachim Gauck.
Und keineswegs handelt es sich bei denen, die so empfinden, ausschließlich
oder auch nur überwiegend um ehemalige Täter und Mitläufer
der SED-Diktatur.
„Um … für unser Volk den inneren Frieden zu gewinnen, müssen
wir auch fähig sein, die Kraft zur Aussöhnung zu finden … Wir würden
sonst die Barrieren, die wir niedergerissen haben, in unserem
Denken neu aufrichten und befestigen.“ Der Mann, der diese Worte
fand, war niemand anderes als Helmut Kohl. Er sprach sie im Januar
1991, als das Ende der SED-Diktatur kaum mehr als zwei Jahre zurück
lag. Jedenfalls für mich kam Kohls Aufruf damals deutlich zu
früh. Aber inzwischen sind aus zwei Jahren zwei Jahrzehnte geworden.
Barrieren wurden wieder aufgerichtet, Spaltungen haben verfestigt.
Dabei darf es nicht bleiben. Es sollen mehr Menschen werden, die
sich an unserem demokratischen Gemeinwesen beteiligen, weil sie
sich ihm zugehörig fühlen. Ob wir die richtigen Lehren aus der Geschichte
ziehen, erweist sich deshalb weniger in ritualisierter Vergangenheitsbewältigung
als in unserer Bereitschaft zu tätigem Neubeginn.
Wer sich dazu bereit findet, muss Demokraten willkommen
sein. Das galt in den Jahrzehnten nach 1945 in der westdeutschen
Bundesrepublik, es muss endlich genauso für das seit 20 Jahren
vereinigte Deutschland gelten.

 

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